Heute ist Verkleidungsfest im Kindergarten. Der Räuber freut sich schon seit zwei Wochen darauf wie ein Schneekönig!
Wir haben zusammen einen Astronautenanzug genäht, die Abzeichen rausgesucht, die Alexander Gerst bei der letzten Mission zur ISS auf dem Anzug getragen hat und aufgebügelt. Zusammen haben wir mit Luftballon, Papier und Kleister einen Astronautenhelm gebastelt und als er heute morgen endlich getrocknet war noch das Sichtfenster zurechtgeschnitten, damit der kleine Astronaut auch sieht, wo er hinläuft.
Selten war der Räuber so schnell im Kindergarten, er ist mir fast davon gelaufen vor lauter Vorfreude! Popcornduft hat uns schon im Eingangsbereich empfangen und viele kleine Piraten, Marienkäfer, Feuerwehrmänner und andere bunte Gestalten. Unzählige Paare leuchtender Kinderaugen.

2.000 Kilometer weiter fliegen Bomben auf Kiew. Sirenen heulen, verängstigte Menschen fliehen aus der Stadt.
Krieg und Frieden. Bomben und Popcorn.  

Unser Welt ist so schön und so hässlich zur gleichen Zeit. Nicht nur heute, sondern jeden einzelnen Tag in der Geschichte. Aber heute liegt es mir besonders schwer auf der Seele. Mit Kiew verbinde ich viele Bilder und Geschichten.
Ich bin in Freiburg aufgewachsen, 500m entfernt vom „S’Einlädele“, Den SecondHand-Laden und die zugehörige „Kiew-Hilfe“ (heute: „Ukraine-Hilfe“) hat die Aidlinger Schwester Inge Kimmerle vor 30 Jahren gegründet. Dort kann man Kleidung, Bücher und vieles mehr kaufen und die Erlöse gehen an verschiedene Projekte in Kiew und der ganzen Ukraine. Als Kinder haben wir immer wieder ausgedientes Spielzeug und gesammeltes Geld dorthin gebracht und viel mitbekommen von der Arbeit von Schwester Inge. Über Gespräche, Konzerte von ukrainischen Musikern in der Gemeinde oder Zeitschriften des Hilfswerkes haben wir immer wieder verfolgen können, was dort alles aufgebaut wurde. 

Die Ukraine ist das drittärmste Land Europas. Kinderarmut betrifft ein Drittel bis die Hälfte aller Kinder. Die große Armut zieht andere Problematiken wie Alkoholismus, Drogenmissbrauch und Gewalt nach sich: mehr als die Hälfte aller Kinder unter 15 Jahren erleben das in der eigenen Familie. Tragfähige Sozial- und Gesundheitssysteme wie wir sie hier kennen, gibt es dort nicht. Das führt dazu, dass immer wieder Kinder und Jugendliche von Zuhause weglaufen und in „Nitschka“, unterirdischen Höhlen in der Kanalisation, Zuflucht finden. Wie groß dort die Not, die Drogen- und HIV-Probleme sind, muss ich wahrscheinlich nicht extra erwähnen. Die letzten Schätzungen der ukrainischen Regierung und Hilfsorganisationen sprechen von 24.000-50.000 solcher Straßenkinder.

Diese Umstände haben Schwester Inge vor 23 Jahren dazu bewogen, mit einer ukrainischen Organisation das „Vaterhaus“ aufzubauen. Ein Haus, in dem diese Kinder eine Alternative zu den Nitschkas finden. Ein echtes Zuhause, wo sie versorgt werden, zur Schule gehen können und am allerwichtigsten: wo sie erfahren, dass sie geliebt sind und angenommen, mit ihrer ganzen Geschichte und allen Verletzungen, die sie mitbringen.
In diesem Jahr war der Bau einer eigenen Schule geplant, weil viele der Kinder aus dem Vaterhaus Probleme in den öffentlichen Schulen haben. Die erlebten Traumata erfordern viel Unterstützung beim Lernen, was dort nicht immer geleistet werden kann. Dazu kommt leider auch immer wieder gezieltes Mobbing gegen die „Heimkinder“.

Krieg und Frieden. Bomben und Popcorn. 
Ich weiß heute nicht wohin mit mir, wie ich mit alldem umgehen soll. Ich hab meinen Laptop geschnappt und mir einen Platz in der Sonne gesucht. Um die Gedanken zu sortieren, um euch zu schreiben. Um vom Vaterhaus und seinen Kindern zu erzählen und irgendwie das Gefühl zu bekommen, wenigstens etwas getan zu haben.
Währenddessen ploppt ein Post auf Facebook auf:

Wenn du heute einen Moment Zeit hast, lass uns gemeinsam etwas tun. Mit Spenden, mit Gebeten, mit praktischer Hilfe, was dir heute möglich ist.